Lehrgedicht: Weltentstehung, Bienenzucht, Sternenhimmel und Liebe

Lehrgedicht: Weltentstehung, Bienenzucht, Sternenhimmel und Liebe
Lehrgedicht: Weltentstehung, Bienenzucht, Sternenhimmel und Liebe
 
Am Anfang der didaktischen Poesie standen in Griechenland die in Hexametern abgefassten Lehrgedichte Hesiods (um 700 v. Chr.). In seiner »Theogonie« schildert er die Entstehung der Götterwelt und die Abfolge der Göttergeschlechter bis hin zur Herrschaft des Zeus; in den »Werken und Tagen« geht es um die Ordnung der bäuerlichen Welt. Gerade das zweite Lehrgedicht hat in der antiken Agrargesellschaft große Nachwirkung gehabt. Das Lehrgedicht war von Anfang an in Hexametern verfasst und beanspruchte auch für sich die Würde des Epos. So bedienten sich Parmenides und Empedokles für ihre philosophischen Lehrgedichte des Hexameters. Auch hellenistische Dichter schrieben Lehrgedichte in diesem Metrum. Arat von Soloi verfasste - von stoischem Denken bestimmt - am Anfang des 3. Jahrhunderts v. Chr. mit seinen »Phainomena« ein Lehrgedicht über Himmelserscheinungen, mit schönen Versen, wie Cicero in seinem Dialog über den Redner Crassus überspitzt sagen lässt, obwohl er von Astronomie nichts verstanden habe; ein ähnliches Urteil wird dort auch über Nikandros von Kolophon gefällt, der im 2. Jahrhundert v. Chr. zwei Lehrgedichte über Mittel gegen giftige Bisse und andere Gifte verfasste. Bei diesen Dichtern wird die Absicht deutlich, schöne Verse über ferner liegende, spröde Themen zu formen. Eine andere hellenistische Spielart des Lehrgedichtes bietet Kallimachos, der seine Ursachenerklärungen, »Aitia«, in elegischen Distichen verfasste, die nicht dieselbe Würde wie das Hexametergedicht beanspruchten.
 
Ganz anderes Gewicht hat das erste römische Lehrgedicht, des Lukrez »De rerum natura« (»Über die Natur der Dinge«). Lukrez hing der Lehre Epikurs mit großer Hingabe an und stellte seine staunenswerte Begabung, als Dichter philosophische Aussagen zu formen, ganz in den Dienst der Verkündigung dieser Lehre; so mag man es verstehen, dass er als Dichter auftritt, obwohl der Meister Epikur gelehrt hat: Der Weise macht keine Gedichte. Und als Dichter ruft er am Anfang Venus an, die sein Gönner Memmius als Ahnherrin ansah und in deren Machtbereich als Göttin der Liebe das Entstehen der Dinge liegt. In der Sache selbst ist Lukrez ganz eindeutig ein konsequenter Jünger Epikurs: Grundlage von allem sind das Leere und die Atome; aus ihrem willkürlichen Zusammenprall ist alles entstanden, in sie löst sich auch alles wieder auf, auch die menschliche Seele; auch die Wahrnehmung ist aus dem Fluss der Atome zu erklären, ebenso der ganze Aufbau der Welt. Alle Phänomene, die uns schrecken könnten, verlieren durch die epikureische Physik ihre Bedrohlichkeit. Epikur erhält mehrfach hymnisches Lob, weil er die wahre Weisheit unter die Menschen gebracht und sie so von der Götterfurcht befreit hat.
 
Vergil bezieht sich in seinem Lehrgedicht über den Landbau, den »Georgica«, auf Lukrez und sieht das Glück in einem der politischen Öffentlichkeit fernen Bauernleben. Auch dieses Werk Vergils ist vielschichtig; es enthält zwar in vier Büchern auf großer Sachkunde beruhende Vorschriften zu 1) Ackerbau, 2) Baumzucht und Weinbau, 3) Viehzucht und 4) Bienenzucht, bietet aber darüber hinaus Lebensorientierung, hebt das Landleben, auch in seiner Härte, als erstrebenswerte Lebensform hervor, singt das Lob des italischen Landes und birgt ungefähr in der Mitte, am Anfang des dritten Buches, das Lob des Augustus, dem Vergil einen Tempel erbauen will, an dem Roms große militärische Erfolge dargestellt sind; zu ihm wird Vergil als erfolgreicher Dichter kommen und ihm Opfer darbringen.
 
Unter Augustus entstanden und seinem Nachfolger, dem Kaiser Tiberius, gewidmet ist das astronomische Lehrgedicht »Astronomica« des Manilius, der mit seinem Thema in eine gewisse Rivalität zum Thronprätendenten Iulius Caesar Germanicus trat, von dem eine Übersetzung und Bearbeitung der »Phainomena« des Arat stammt. Hier ist besonders die in der Antike allgemein fehlende Scheidung der Astronomie von der Astrologie festzustellen. So wird die Bedeutung der Tierkreiszeichen und anderer Gestirnkombinationen für die Menschen erörtert. Leicht konnte Manilius damit stoische Auffassungen von der schicksalhaften Verkettung allen Geschehens verbinden.
 
Von ganz anderer Art sind die Lehrgedichte Ovids, die er nach dem Vorbild von Kallimachos' »Aitia« in elegischen Distichen verfasste: »Ars amatoria« (»Liebeskunst«) und die »Remedia amoris« (»Heilmittel gegen die Liebe«). Im Gegensatz zu den »Amores« (»Liebesgedichten«), in denen er sich als an der Liebe Leidender gibt, tritt er hier als Lehrmeister auf. Es geht darum, wo man Frauen finden, wie man sie gewinnen kann und sie lieben und ihre Liebe erhalten soll; dieselben Vorschriften werden dann auch in entsprechender Umkehrung den Frauen gegeben. Denkt man an die uns etwa in Pompeji erhaltenen pornographischen Bilder, ist Ovids Gedicht, wenn es auch nicht für keusche Ehefrauen bestimmt ist, sicher ein harmlos spielendes, wohl tändelndes, die liebenden Menschen aber achtendes Werk. Rom ist nach Ovid besonders reich an begehrenswerten Frauen, denn Venus, die Mutter des Aeneas, wählte Rom zu ihrem Sitz. Diese Vorstellung von Rom und die seiner strengen Ehemoral widersprechende Tendenz hat Augustus 8 n. Chr. als Begründung für Ovids Verbannung genannt.
 
Prof. Dr. Hans Armin Gärtner und Dr. Helga Gärtner
 
 
Dihle, Albrecht: Die griechische und lateinische Literatur der Kaiserzeit von Augustus bis Justinian. München 1989.
 Kähler, Heinz: Rom und seine Welt. Bilder zur Geschichte und Kultur. 2 Bände. München 1958-60.
 
Römische Literatur, herausgegeben von Manfred Fuhrmann u. a. Frankfurt am Main 1974.

Universal-Lexikon. 2012.

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